LIVE FLESH
MIT HAUT UND HAAR

(Carne trémula)

Buch & Regie: Pedro Almodóvar
Start: 7. Mai 1998

Tagebucheintrag Sonntag, 31. Mai 1998

Fahr' Bus und Bahn.
Von wegen!
Arschlöcher!
Bin im Besitz von zwei, das heißt, eigentlich sogar vier Freikarten für DEAD MAN DON'T WEAR PLAID, Frankfurt, 23.00. War am Freitag schon dort, Original mit Untertiteln. Heute wollte niemand mehr mit.
21.15: Ich entschließe mich trotzdem nach Frankfurt zu fahren. Muß mich beeilen, den Bus noch zu bekommen, die S-Bahn fährt um 21.35.
21.22: Der Darmstädter Luisenplatz ist wie leergefegt. Ich schaue auf den Fahrplan, 21.20, na prima, sonst hat der Bus auch immer 3 Minuten Verspätung.
21.30: Zurück am Rechner, ich studiere Fahrpläne. Um 21.56 fährt noch ein Zug zum Hauptbahnhof, das würde genügen. Das Problem ist nur, der Bus kommt erst um 21.54 dort an.
21.49: Ich stehe wieder am Luisenplatz, kein Bus bisher.
21.50: Der Bus kommt.
21.52: Der Bus fährt ab. 2 Minuten Verspätung.
21.54: Der Bus hält, leider nicht am Bahnhof, sondern die Station davor.
21.55: Der Bus hält am Hbf, ich spurte am Fahrplan vorbei, Gleis 5, ...
21.56: Ist das Gleis 5? Wo gerade der Zug abfährt? Da sage nochmal einer, die Bahn sei nicht pünklich.
Zurück zum Fahrplan, kurze Zeit lasse ich mich täuschen, um 22.05 führe noch eine S-Bahn. Nicht am Sonntag. Kacke, die um 22.35 ist zu spät, Ankunft erst um 23.13, und ich muß ja noch bis ins Kino. Ah, da! Ein Zug, um 22.25, ist 22.45 in Frankfurt.
22.20: Gleis 5. Ansage: Der Zug hat 10 Minuten Verspätung.
22.35: Der Zug kommt, die S-Bahn fährt gerade ab. Egal, der Zug ist schneller. Vielleicht holt er die Verspätung noch auf?!
22.55: Der Zug rollt Richtung Frankfurt Hbf, kurz davor hält er an. Nein, doch nicht. Puh, Glück gehabt.
22.59: U-Bahn-Station. Die nächste um 23.04.
23.04: Die U-Bahn kam schon vor 2 Minuten, hat aber bis eben gewartet und fährt pünktlich ab.
23.05: Das ging flott, jetzt nur schnell nach oben und ab ins Kino. Erstaunlich, wie tief so ein U-Bahnhof liegt, wenn man es eilig hat...
23.07: Kinokasse, keine Probleme, der Mann drückt mir zwei Karten in die Hand: "Der Hauptfilm hat schon angefangen."
23.08: Die Tussi am Abriß bemerkt, daß ich zwei Karten habe, ihr aber nur eine gebe.
"Zwei Karten? Soll ich die zweite nicht auch ...?"

Soll ich sie fragen, ob...? Nein, sie muß ja Karten abreißen...
"Es wollte eben keiner mit."
"Wieso hast Du dann zwei Karten gekauft?"
"Die waren umsonst."
"Soll ich sie nicht abreißen, wenn jemand kommt?"
"Kann ich eigentlich nicht auch in einen anderen...?"
"Ich meine die Karten. Soll ich sie nicht abreißen?"
"Du meinst, wenn jemand kommt...?"
"Ja, wenn jemand kommt..."
"Es kommt keiner."
- Sie verzieht das Gesicht und denkt etwas sehr Beleidigendes.
Eigentlich wollte ich ja unauffällig..., aber das hat sich dann ja wohl erübrigt. Ich gehe in den Kinosaal. Es läuft gerade die Schlüsselszene.
"What are you doing?"
"Adjusting your breasts!"

Das Publikum grölt. Ich setze mich. Irgendwie bin ich deprimiert. Die Untertitel gleiten an mir vorbei, ich nehme nur schemenhafte Schatten auf der Leinwand wahr. So kann das nicht weitergehen! Schließlich lautet die Überschrift dieser Seite nicht "Dead Men Don't Wear Plaid". Ich stehe auf, verlasse den Raum. Ein Blick nach oben. Die Tussi reißt Karten ab. Die Treppe hinunter, nach rechts, eine Tür. Ich setze mich. Ist das schon der Hauptfilm? Ah, nein, nur Werbung für CHINESE BOX. 2 Minuten, LIVE FLESH beginnt. Hm, spanisches Drama. Hätte ich doch lieber in GINGERBREAD MAN gehen sollen? Aber der soll ja auch nicht so toll sein.

Bus stop

Auf jeden Fall, wie soll ich nach dieser mir im Zug schon fest vorgenommenen öffentlichen Verkehrsmittel- Geschichte noch die Kurve zu LIVE FLESH kriegen? Tja, vor kurzem habe ich noch jemandem erzählt, daß alles am Ende irgendwie plötzlich zusammenpaßt und was soll ich sagen, Víctor Plaza (Liberto Rabal) wird in einem Bus geboren. Ein echtes Glückskind, erlangt er doch die Ehrenbürgerschaft und bekommt eine Freifahrkarte auf Lebenszeit. 20 Jahre später dann der erste Sex.
"Hallo Elena, hier ist Víctor." Elena
"Welcher Víctor?"
"Der von Samstag abend. Auf der Party"
"Welcher Víctor?"
"Der, der Dich auf der Toilette gevögelt hat."
"Da war ich vollkommen stoned."
"Können wir uns sehen?"
"Nein, hab' schon was vor."
"Aber wir hatten eine Verabredung."
"Hab' schon was anderes vor."
"Du kannst nicht was anderes vor haben. Wir haben uns verabredet. Du hast mir Deine Nummer gegeben. Wir haben gevögelt."
"Hör zu, ich kann mich nicht erinnern. Ich war total stoned. Es ist besser, Du rufst mich nicht mehr an."

Doch Victor mit einer immer gültigen Busfahrkarte setzt man sich in diesem Falle einfach in den Bus und fährt gefrustet durch die Gegend, bis..., ja bis man die Herzallerliebste irgendwo am Fenster sieht. War gelogen, sie hatte gar nichts vor. Elena (Francesca Neri) ist wenig begeistert, und dann sind da noch David cumshot (Javier Bardem) und Sancho (José Sancho), zwei Polizisten, die in die Auseinandersetzung geraten. Elena verliebt sich sofort in David, der sein restliches Leben von diesem Tage an im Rollstuhl verbringt. Víctors Leiden ist scheinbar kürzer. Sechs Jahre verbringt auch er, allerdings nicht im Rollstuhl, sondern im Gefängnis. David, Elena, Víctor, Sancho und dessen treulose Ehefrau Clara (Ángela Molina), im Verlaufe des Films entpuppen sich alle als Verlierer..., denke ich, und es geht mir schon viel besser.

LIVE FLESH ist nichts für eingefleischte Fans amerikanischer Massenware, aber auch kein langweiliges Drama. Die Komik wird einem nur nicht mit der Holzhammermethode ins Auge geprügelt. Und mehr Sex als MURDER AT 1600 oder OCTALUS hat der Film auch. Ich jedenfalls war danach wieder gut gelaunt und hatte den ganzen Streß der Bahnfahrt schon fast vergessen.

Montag, 1. Juni 1998

0.50: Der Film ist vorbei, ich gehe in die U-Bahnstation. Es kommt sofort eine U4 Richtung Hauptbahnhof. Ich finde ohne Probleme das richtige Gleis, die S-Bahn verläßt pünktlich 1.17 Frankfurt.
1.54: Die S-Bahn hält wie sie soll in Darmstadt, es fahren keine Busse mehr, ich muß laufen. Es regnet Katzen und Hunde.

KO

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